Dresden-Tagebuch
08
Der
Ruhetag ist vorbei, die Kämpfe auf den 64 Feldern gehen weiter
und die 6. Runde hatte es gestern wieder so richtig in sich. Aus
österreichischer Sicht gab es mehrere extrem positive
Ereignisse, und es ist nicht klar, worüber man sich mehr freuen
soll. Ist es die tolle Partie von Eva Moser, die Weltmeisterin
Kostenjuk an den Rand einer Niederlage brachte, oder ist es
unsere Nummer 1, Markus Ragger? Er zerlegte den ägyptischen Großmeister
Adly in einer atemberaubenden Kombinationspartie! Freuen wir uns
gar am meisten über
die kämpferische Leistung von Tina Kopinits, die sich mehr als
100 Züge lang gegen die drohende Niederlage
stemmte und schlussendlich den Remishafen erreichte. Ihr seht,
freudige Anlässe gibt es mehr als genug, aber der Reihe nach:
Herren Runde 6
Br. |
54 |
Austria
(AUT) |
Elo |
- |
49 |
Egypt
(EGY) |
Elo |
3½:
½ |
26.1 |
GM |
Ragger Markus |
2518 |
- |
GM |
Adly Ahmed |
2586 |
1 - 0 |
26.2 |
GM |
Kindermann Stefan |
2517 |
- |
GM |
Amin Bassem |
2560 |
1 - 0 |
26.3 |
IM |
Atlas Valery |
2465 |
- |
IM |
Ezat Mohamed |
2425 |
1 - 0 |
26.4 |
IM |
Baumegger
Siegfried |
2445 |
- |
IM |
Frhat Ali |
2418 |
½ - ½ |
Bei den Herren traten wir gegen Ägypten an, ein starkes Team,
das in der Setzliste ungefähr 10 Plätze vor uns liegt. Zoltan
Ribli erwartete ein hauchdünnes Ergebnis und konnte oder wollte
keine der beiden Mannschaften favorisieren. Umso phantastischer
ist der letztendlich klar und deutlich heraus gespielte 3,5:0,5
Erfolg für unser Team. Und wie er zustande kam! Weiter oben
habe ich bereits die Glanzpartie von Markus erwähnt. Mit der
Neuerung …Dxa2 konfrontiert, fand er am Brett eine
phantastische Lösung, seine Figuren harmonisch zusammenwirken
zu lassen. In der entscheidenden Phase verdient praktisch jeder
Zug ein Rufzeichen. Faszinierend,
wie er einem Hochseilartisten gleich, in einem wahren Balanceakt
ohne Netz traumwandlerisch
sicher auf dünnem Seil balancierte.
Auch ohne allzu dicke rotweißrote Brille kann man dieser
Partie ohne zu zögern den Titel „Angriffspartie der Runde“
verleihen (siehe
Olympiasplitter). Die Elo-Performance von Markus beträgt in diesem
Turnier momentan 2685!!
Baumegger spielt Damenindisch, daneben Atlas
Daneben sollten aber unsere beiden weiteren, glänzend heraus
gespielten Siege nicht verblassen. Während zwei Stockwerke über
dem Spielsaal GM Wolfgang Uhlmann in einer Autogrammstunde sein
Buch „Französisch-richtig gespielt“ vorstellte und
signierte, lieferte Stefan Kindermann praktischen
Anschauungsunterricht, wie man diesen programmatischen Titel in
der Praxis umsetzte.
Ein Leben lang Französisch - Wolfgang Uhlmann
Eine Französisch-Partie aus einem Guss,
mit lehreichen Manövern und einer netten Schlusswendung
gespickt, entzückt das Herz des Nachspielenden. Valery
Atlas entpuppt sich als Meister darin, wenn es geht, halboffene
Eröffnungen zu knacken. Diesmal bekam er es mit der
Caro-Kann-Verteidigung zu tun. In der Vorstoßvariante spielte
er auf umfassenden Raumgewinn, schnürte seinen Gegner
systematisch ein und nahm dazu noch alles Material mit, was er
auf der Strecke so vorfand. Positionell haushoch überlegen und
dazu zwei Läufer mehr – die Schlussstellung spricht Bände.
Siegfried Baumegger an Brett 4 brachte die solide damenindische
Verteidigung aufs Brett und gestattete seinem Gegner in keiner
Phase der Partie einen ernsthaften Vorteil. Mit einem 3:0 im Rücken
kam ihm ein Remisangebot leicht über die Lippen, das prompt
angenommen wurde.
Ein glorreicher Sieg gegen einen starken Gegner! Heute wird es
allerdings noch um ein Stück härter. Slowenien, auf Platz 26
gereiht (zur Erinnerung: Österreich liegt in der Setzliste
beinahe 20 Plätze zurück auf Rang 54) wird uns das Leben nicht
leicht machen. Angeführt von Alexander Beljavski und Dusko
Pavasovic ist es in der Tat eine Respekt einflößende Truppe.
Also ab 15.00 Uhr weiterhin fest Daumen drücken!
Damen Runde 6
Br. |
36 |
Austria
(AUT) |
Elo |
- |
1 |
Russia
(RUS) |
Elo |
1
: 3 |
3.1 |
IM |
Moser Eva |
2376 |
- |
GM |
Kosteniuk
Alexandra |
2525 |
½ - ½ |
3.2 |
WFM |
Kopinits
Anna-Christina |
2270 |
- |
IM |
Kosintseva
Nadezhda |
2468 |
½ - ½ |
3.3 |
WFM |
Novkovic Julia |
2161 |
- |
IM |
Korbut Ekaterina |
2459 |
0 - 1 |
3.4 |
|
Newrkla Katharina |
2071 |
- |
WGM |
Pogonina Natalija |
2474 |
0 - 1 |
Bei den Damen war die Ausgangslage anders: Alles andere als ein
klarer Sieg der Russinnen gegen uns wäre schon eine kleine
Katastrophe für die Schachnation Nr.1 gewesen. Dass unser Team
aber nicht willens war, sich einfach widerstandslos die Punkte
abzuknöpfen, zeigte eine nette Aktion, die für viele
interessierte und aufmerksame Blicke der versammelten Presse
sorgte. Am spielfreien Tag hatten unsere Damen die Idee, sich
rotweißrote T-Shirts zu besorgen. In den weißen Streifen ließen
sie eine warnende Aufschrift für ihre Gegnerinnen drucken: So
waren denn die Russinnen die ersten, die zusammengesetzt
folgende Aufschrift lesen konnten: „Attention!“ „We are
in“ „good“ „form“. Das brachte auch unseren Präsidenten
zum Schmunzeln, der zum zweiten mal nach Dresden angereist kam,
beginnt doch heute der FIDE-Kongress.
Österreichs Team zeigt Humor vor dem Match gegen Russland
Das programmatische Motto ihrer T-Shirts schien in der ersten
Spielstunde noch nicht richtig aufzugehen. Julia Novkovic
spielte ein ungenaues Eröffnungskonzept, das von ihrer Gegnerin
mit dem starken Vorstoß…g5! Praktisch widerlegt wurde. Damit
war bereits in einem frühen Stadium die Hoffnung auf eine
Sensation auf ein Minimum geschrumpft. Als auch Katharina
Newrkla dem starken Druckspiel der Großmeisterin Natalja
Pogonina nicht standhalten konnte, ging es nur noch darum, sich
ehrenhaft aus der Affäre zu ziehen. Und dies gelang auf tolle
Weise. Eva Moser spielte auf Brett 1 enorm konzentriert und
motiviert gegen die frischgebackene Damenweltmeisterin Alexandra
Kosteniuk. Als nach mehr
als vierstündiger Spielzeit der Raumvorteil von Weiß immer
bedrohlicher wurde, mehrten sich die sorgenvollen Gesichter der
russischen Betreuer rund um Juri Razuvaev,
die im Pressezentrum aufgeregt in die Monitore starrten.
Eine Niederlage ihrer Weltmeisterin gegen die Österreicherin?
Das wären bad News für Moskau gewesen.
Sorgenvolle Blicke bei den Russen...
Hoffnungsvoll die Österreicherinnen
Mit all ihrer Kraft und
Routine stemmte sich Kosteniuk gegen den Verlust. Leider konnte
Eva in der entscheidenden Phase dem verlockenden Damentausch
nicht widerstehen, gerade dies erlaubte es aber ihrer Gegnerin,
die Stellung gerade noch zu halten. So nahm denn Eva die
begeisterten Glückwünsche des Teams entgegen, nicht ohne
darauf hinzuweisen, dass sie eine Riesenchance verpasst habe,
die regierende Weltmeisterin zu besiegen.
Nicht traurig sein, Eva! Dieses großartige Kampfpartie
und dein bisheriges Ergebnis von 4,5 aus 5 Partien am ersten
Brett sprechen Bände. Ihre Perfomance bislang beträgt 2562!
Ein bemerkenswertes Bild hat sich mir eingeprägt. Ein fast
leere, riesige Spielhalle, hunderte verwaiste Schachbretter, und
irgendwo, verschwindend klein, eine Spielerin im rotweißroten
T-Shirt. Über 100 Züge sind schon geschehen und Tina Kopinits
wehrt sich noch immer gegen die russische Großmeisterin
Nadeshda Kosintseva. Schon einige Stunden muss Tina eine
Stellung mit Minusbauern verwalten. Als die Russin ihre
Gewinnbemühungen einstellen muss, kann Tina strahlend die
Gratulation ihrer Kolleginnen entgegennehmen. Selten hat eine
Mannschaftsniederlage süß geschmeckt wie dieses 1:3 gegen
Russland.
Der Kampf ist vorüber - das Remis geschafft!
Wie bei den Herren geht es auch bei den Damen heute gegen einen
extrem schweren Gegner in den Ring. Es wartet auf uns nämlich
Armenien. Die Nummer 6 in der Setzliste.
Also, um 1500Uhr geht es wieder los, wenn Hauptschiedsrichter
Ignatius Leong in der Spielhalle wieder verkünden wird.
„Ladies and Gentlemen, please start!“
Lang lebe unser König!
Der kommende Supersamstag
Für alle Schachfans zuhause, die das Wochenende nützen wollen,
live bei dieser einmaligen Schachveranstaltung dabei zu sein und
eine Reise nach Dresden planen, noch einige interessante
Hinweise:
Die “World of Chess” im Rathaus der Landeshauptstadt Dresden
als zweiter wichtiger Veranstaltungsort der Schacholympiade hat
jeden Tag volles Programm zu bieten. Über Analysen,
Autogrammstunden, Ausstellungen, Kabarett und Musikshows bis zum
Treffpunkt zwischen Spielern und Zuschauern bei kostengünstiger
Verpflegung ist alles dabei. Am Samstag, 22. November, steht ein
Höhepunkt der Schachshow an: Weltrekordversuch für das
Guinness-Buch der Rekorde!
Die längste Schachbuchstraße aller Zeiten soll es werden –
mehrere TV-Sender haben sich angesagt, um das Ereignis zu
filmen, ab 10 Uhr wird aufgebaut. Dieser Weltrekordversuch ist
als „Inaugural Attempt“ von Guinness anerkannt und wird
weltweit in die Guinness Publikationen Eingang finden. Das Motto
der Schacholympiade trifft es exakt: “Wir spielen eine
Sprache”. Schach wird weltweit gespielt und die bildliche
Darstellung der Spielzüge verstehen Eskimos genauso gut wie
Europäer, Afrikaner oder Amerikaner.
Das ist aber längst nicht alles. Sonderumschlag mit
Sonderbriefmarke sowie Sonderstempel mit dem Motiv des Goldenen
Reiters werden am Samstag angeboten. Der Verein für Sächsische
Postgeschichte und Philatelie e.V. verkauft die Restbestände
des Sonderpostamts von vergangener Woche im Rahmen der Sammlerbörse
ab 9.30 Uhr an der „World of Chess“ im Rathaus, Eingang
Goldene Pforte. Interessenten finden auch andere Belege zu den
Themen Schach, Dresden und Sachsen.
Die Sammlerbörse der Schachmotivsammler schließlich rundet das
Angebot ab. Den ganzen Samstag über bis 16 Uhr findet sich
Gelegenheit, Bücher und Briefmarken, Schachmaterial und -zubehör
sowie allerlei Kostbares rund ums Thema Nr. 1 der
Schacholympiade zu entdecken, zu erwerben und zu tauschen.
Blicken wir zum Schluss der heutigen Betrachtungen einmal aufs
Gastgeberland Deutschland, das bislang hervorragend spielt und
einen wahren Schachboom in der Presse ausgelöst hat:
Deutschland auf Medaillenkurs
Standing Ovations für Jan Gustafsson. Über eine Stunde kämpfte
der Hamburger gegen den von der Wertungszahl her schier übermächtigen
Alexander Morozevich am Montag, dem fünften Spieltag der
Schacholympiade in Dresden, mit einem Bauern weniger, bis der
Russe schließlich die Hand zum Remis reichte. Geschafft! Jan
erreichte damit das zuvor für unmöglich gehaltene 2:2
Unentschieden gegen den Topfavoriten Nr. 1 und Deutschland
befindet sich damit weiterhin auf Medaillenkurs. Hunderte von
Zuschauern im Saal und am völlig überfüllten
Kommentatorenplatz im Foyer erhoben sich von ihren Sitzen und
applaudierten dem glücklichen, aber völlig erschöpften
Bundesligaspieler, der Deutschland damit ganz vorne in der
Spitze des Teilnehmerfeldes hielt.
„Ich bin aber keiner der Spieler“, lachte Bundestrainer Uwe
Bönsch gleich nach seinem ZDF-Interview dem Autogrammjäger
entgegen, der dann aber schlagfertig konterte: „Aber wie man
sieht: Ein sehr guter Trainer“. In der Tat kann Deutschland
mit dem bisherigen Turnierverlauf mehr als zufrieden sein.
Gestern traf die Mannschaft nach dem ersten spielfreien Tag des
Turniers auf die Ukraine, die zweitstärkste Mannschaft unter
allen Teilnehmern. Arkadij
Naiditsch – mit vier Punkten aus fünf Spielen und einer
Performance von 2.870 ELO-Punkten einer der besten Spieler des
gesamten Turniers – kam die Aufgabe zu, Superstar Vasily
Ivanchuk unter Kontrolle zu halten. Dies gelang und die
Begeisterung rund um das Nationalteam wächst somit
unaufhaltsam, das Medieninteresse übersteigt jede Prognose. Im
Turniersaal befinden sich nun stets mehrere Fernsehteams auf der
Jagd nach den besten Bildern, und mehr als 400 akkreditierte
Journalisten drängen sich bereits beim weltweit größten
Schachturnier. Tendenz: steigend!
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