„Der Schachspieler hinter Van der Bellen“ ist der Titel eines Standard-Artikels über Lothar Lockl. Der Verweis auf das Spiel mit den 64 Feldern fehlt in kaum einer Geschichte über den Mann, der als Politik- & PR-Stratege maßgeblich zur Wahl des heutigen Bundespräsidenten beigetragen hat.
Ein persönliches Schach-Porträt von Hannes Neumayer
Erzählen Politiker von ihrer Schachkarriere, werden Schachinteressierte skeptisch: Da gibt es doch den ominösen Ex-Vizekanzler, der den (bislang unbelegten) Mythos seines Schülerliga-Erfolgs bei den Schulbrüdern in Wien-Strebersdorf verbreitete. Bei Lothar Lockl ist das anders: Es ist die Geschichte einer großen Liebe, die man als Erwachsener aus den Augen verliert, um sie Jahrzehnte später aus heiterem Himmel wiederzuentdecken.
„Mein Vater war begeisterter Hobby-Schachspieler und hat mir Schach beigebracht. Am Wochenende ging es immer zum
Familienaus.ug mit dem Fahrrad in die Lobau: Er hat es geliebt mit mir Schach zu spielen und natürlich immer gewonnen. Bis zu dem Tag, an dem ich gewonnen habe! Da hat er, glaube ich, drei Tage die Kommunikation mit mir eingestellt, weil das natürlich in der Familiengeschichte eine Zäsur war“, erinnert sich der 1968 geborene Lockl zurück.
Weiter ging es über Vermittlung der Mutter in der Schule. Der Klassenvorstand bot neben Mathe auch Schach als Freifach an: „Meine Mutter dachte, aufgrund meiner disziplinären Probleme – ich war sicher nicht der einfachste Schüler aus Sicht meiner Lehrer – wäre es förderlich für die Beziehung zu meinem Klassenvorstand, dass ich an dieser unverbindlichen Übung teilnehme.“ Die Mutter sollte recht behalten: Der Klassenvorstand vermittelte das junge Talent bald zum nahe gelegenen Schachklub Donaustadt, in das Mergenthaler Stüberl in Kagran, gleich hinter dem Donauzentrum.
Lockls Schulwechsel von der Donaustadt nach Erdberg macht diese Geschichte zu einem persönlichen Porträt: Lothar wurde
die gesamte Oberstufe mein Sitznachbar im GRG III. Schon nach wenigen Wochen wurde mir bewusst, wie hartnäckig er sein kann. Weil er jeden Tag seine Partien vom Vortag nacherzählen und nachspielen wollte, musste auch ich Schachspielen lernen. Nicht nur
das: Ich musste mir die Partie virtuell auf der Schulbank vorstellen können. Heute kann ich es ja zugeben: Es war in gleichem
Maß nervtötend wie beeindruckend, ein ganzes Schachspiel in Buchstaben-Zahlen-Kombinationen auswendig zu können und sich im Kopf vorzustellen. Bei mir reichte es eher zur Aufstellung des letzten Derbys Rapid – Austria. Eine
Leidenschaft, die uns bis heute trennt. Denn er ist Violetter, ich Grüner.
Kurz darauf mussten wir wegen Lothar Schülerliga spielen. Das war leider genauso wenig erfolgreich wie mein einziges Schach-Turnier mit einem Kontumaz-Sieg als Highlight. Eine unvergessliche Anekdote: Im Maturajahr musste jeder der 21 Klassenkameraden einen Schach-Großmeister kennen. Bis heute sorgen Namen wie Dzindzichashvili bei Klassentre£en für Gelächter.
Lothar war es aber ernst mit Schach: Tennis und Basketball wurden zurückgestellt. Er wurde Wiener Jugendmeister, also Stadtmeister, spielte für Donaustadt und Hietzing Staatsliga und holte sich den Titel „Österreichischer Meister“. Die beste ELO-Zahl kommt auch heute wie aus der Pistole geschossen: „2280. Ich war knapp vor dem FIDE-Meister.“
Während die Freunde die Maturareise am ungarischen Plattensee fortsetzten, erfüllte sich Lothar „den Traum Schach
für ein paar Monate wie einen Beruf auszuüben. Ich habe dann auch Turniere in Deutschland, Schweden und England gespielt. Ich wollte ausprobieren, wie ist es, wenn man eine gewisse Zeit ununterbrochen Schach spielt. Ich habe viel Gewicht verloren. Man denkt Tag und Nacht an das Spiel und am Ende war mir diese extreme Belastung zu einseitig. Aber: Ich habe es probiert, es hat mich
wahnsinnig geprägt und es ist eine unbezahlbare Schule fürs Leben. Davon habe ich in der Politik und in meiner Firma
massiv profitiert.“
Immer griffbereit. Das Schachbrett musste zum Foto-Termin bei „Lockl & Keck“ nicht mitgebracht werden, es gehört zum Büro-Inventar.
Wie war der Schachspieler Lothar Lockl?
Lothar Lockl: Ich war ein sehr schlechter Eröffnungsspieler und hatte dadurch viele Zeitnotpartien. Ich habe sehr intuitiv gespielt, wenig auswendig gelernt. Trotzdem habe ich viele Partien auch wegen dem Faktor Psychologie gewonnen. Ich hatte oft für zehn Züge nur noch zwei Minuten. Der andere hatte für die zehn Züge noch eine Dreiviertelstunde. Es ist klar, dass eigentlich der gewinnen müsste, der mehr Bedenkzeit hat. Aber er hat auch den vollen Druck, weiß, „ich muss jetzt gewinnen“. Von dem, der Zeitdruck hat, hingegen erwartet man, dass er verliert. Also in dem Fall ich. Da lernt man: Bleib’ gelassen, konzentrier’ dich, glaub’ an die Chance. Gerade, wenn du mit Medien und Öffentlichkeit in der Politik zu tun hast, hilft das.
Dein eindrucksvollstes Schach-Erlebnis?
Was mich wahnsinnig fasziniert hat, waren die Partien zwischen Garri Kasparow und Anatoli Karpow. Ich war einmal bei einem Open in London, die beiden haben parallel einen WM-Kampf gespielt. Da sind diese beiden Welten aufeinandergetro£en: Karpow als Positionsspieler mit sehr langfristig angelegten Strategien, der jedes Risiko gerne vermieden hat. Während sich Kasparow am wohlsten gefühlt hat, wenn das Brett in Flammen steht! Wenn viele taktische Varianten am Tisch waren. Der Kasparow-Stil ist natürlich viel spektakulärer zum Nachspielen, während der Karpow-Stil manchmal fälschlicherweise als fad bezeichnet worden ist. Weil es für Hobbyspieler manchmal nicht ersichtlich ist, welche Genialität sich hinter den Zügen verbirgt. Dieses Aufeinandertre£en von Feuer und Wasser: dort ruhige Wellen, kein Ausschlag und dort der stürmische Ozean, die Leidenschaft der kurzfristigen Energie.
Wer warst du am Brett: Karpow oder Kasparow?
Mehr ein kleiner Kasparow (lacht). Mir hat sein hohes Risiko bewusstsein imponiert. Er hat immer Mut, Zuversicht und
Selbstvertrauen ausgestrahlt. Meine Lieblingsvariante ist übrigens die Sweschnikow-Variante in der sizilianischen Eröffnung – das ist eine sehr aggressive Angriffsvariante mit den schwarzen Steinen. Das taugt mir!
Nachdem du bis ins Alter von 25 Staatsliga gespielt hast, war lange Pause. Wie bist du wieder zum Schach gekommen?
Ich habe sicher 20 Jahre keine Partie mehr gespielt. Ich bin so: ganz oder gar nicht. Erst im Präsidentschaftswahlkampf 2016 bin ich sehr oft sehr spät nach Hause gekommen, oft erst in der Früh. Da war natürlich sehr viel Druck im Wahlkampf und ich konnte nicht gleich einschlafen. Da habe ich dann eine Schach-App am Smartphone entdeckt. Die App habe ich auf 15 Minuten ich, 15 Minuten das Programm eingestellt und vor dem Einschlafen meistens noch eine Partie gespielt. Fast jeden Tag. Das war dann
mein Einschlafritual, so habe ich die Liebe zum Schach wiederentdeckt. Das hat mich aufgewühlt und beruhigt zugleich. Meistens
bin ich dann erschöpft eingeschlafen.
Was kann man vom Schachspiel auf das Leben umlegen?
Zum Beispiel das ganze Thema Konzentrationsfähigkeit. Sich in bestimmten wichtigen Situationen ausschließlich auf eine Sache zu konzentrieren und das komplette Potenzial zu entfalten. In einen Flow-Zustand zu kommen, das lernt man beim Schach. Ich habe es vor allem beim Blindspielen gelernt, also sich ohne Brett und ohne Figuren die ganze Partie nur im Kopf vorzustellen.
Und im Job als Strategie-Berater für Politik oder Unternehmen?
In einer Unternehmensstrategie oder einer politischen Strategie machen viele den Fehler, ausschließlich zu sagen: „Und, was sollen wir jetzt machen?“ Sie blenden komplett das Umfeld aus, die Rahmenbedingungen, den Wettbewerb. Der Schachspieler denkt ja: Angenommen der andere wäre am Zug, was würde der ziehen? Dadurch ist dein Gegenüber auch ein Faktor. Dann überlege ich mir, was heißt das für meinen Zug? Das ist eine unbezahlbare Schule, dass ich bei jedem Konzept erst einmal überlege: Was ist die Ausgangssituation? Was würden potenzielle Konkurrenten oder Mitbewerber machen? Und dann überlege ich mir erst, was heißt das für meine Strategie.
Und im Schach musst du irgendwann den nächsten Zug machen …
Richtig. Ein Riesen-Thema im Spitzen-Management ist das Thema Entscheidungen! Du musst beim Schach unter Zeitdruck
eine Entscheidung treffen. Und du weißt, du kannst einen Zug nicht mehr rückgängig machen. Das prägt fürs Leben: vorausdenken, abwägen, entscheiden. Und was ganz wichtig ist, ist Stressresistenz: unter Zeitdruck gelassen und ruhig zu bleiben. Anstatt die Nerven wegzuschmeißen, weil viele Menschen zusehen oder kiebitzen, muss man sich fokussieren. Mich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, habe ich beim Schach gelernt.
Schach prägt fürs Leben. Lockl: „Du musst beim Schach einfach eine Entscheidung treffen. Unter Zeitdruck. Und du weißt, du kannst einen Zug nicht mehr rückgängig machen.“
Du hast einmal gesagt, dass ein Kern-Problem der Politik ist: Alle schauen auf Taktik, aber nicht auf die Strategie!
Oft ist es gut zu überlegen, ist das jetzt eine taktische Überlegung oder folgt es wirklich einem langfristigen strategischen Plan. Wenn ich beides im Auge habe, wird im Regelfall nicht nur die Schachpartie besser, sondern auch die Qualität von unternehmens- oder politikstrategischen Entscheidungen. Natürlich, der aktuelle Mediendruck und die digitale Welt verführen zum kurzfristigen Denken. Oder Renditeerwartungen in der Wirtschaft. Aber nachhaltigen Erfolg hat man im Regelfall nur, wenn man einen langfristigen Plan verfolgt.
Könnte man folgern, die Welt braucht mehr Schachspieler in der Politik?
Schachspielen zu können ist sicher kein Nachteil, im Gegenteil. Einen langen Atem haben, sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, aus Fehlern lernen, wenn man daneben gelegen ist: Für die Qualität politischer Entscheidungen wäre es sicher besser, wenn es mehr langfristige Orientierung gäbe. Schach ist ein unbezahlbares Wissen, wenn man das Privileg und die Chance hatte, Strategie, Taktik, Konzentrationsfähigkeit, Risikobereitschaft, Entscheidungsfreude, Gelassenheit zu entwickeln.
(Ein Beitrag aus dem Magazin 100 Jahre ÖSB)
WK, Interview: Hannes Neumayer, Fotos: Robert Sturm