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Rückblick auf das ÖSB-Jubiläumsjahr - Kurt Jungwirth im Interview

Die nunmehr 100-jährige Geschichte des ÖSB lässt sich gut in drei Perioden einteilen: vor, während und nach dem 2. Weltkrieg. 46 Jahre davon hat Kurt Jungwirth von 1971 bis 2017 den ÖSB als Präsident geführt, lässt man die acht Jahre der Kriegszeit aus, dann hat der Fan des SK Sturm eine ganze Halbzeit der 100 Jahre regiert.

WK: Lieber Kurt, wie geht es dir und wie hast du das Jubiläumsjahr des ÖSB persönlich erlebt.

KJ: Ein Virus hat das 100-Jahr Jubiläum leider stark gestört. In Graz hatten wir das Glück, das traditionelle, große Internationale Turnier im Februar gut über die Bühne zu bringen. Ein paar Wochen später hätten wir einen Scherbenhaufen erlebt. Es hat internationale Versuche gegeben, Corona online zu überspielen. Erfreulich war, dass es uns gelang, die Österreichischen Jugendmeisterschaften auf diese Weise zu retten. Eine organisatorische und technische Meisterleistung.

WK: Du bist 2017 als Präsident des ÖSB zurückgetreten. Wie ist seither deine Verbindung mit Schach geblieben?

KJ: Ich verfolge ungebrochen das Schachgeschehen in Österreich und international. Es ist erfreulich, dass mein Nachfolger, Christian Hursky, sehr ambitioniert tätig ist. Trotz mancher Diskussion muss Zusammenhalt oberstes Prinzip im ÖSB bleiben.

WK: Anfang Dezember ist im Beyer-Verlag von dir, Ehn und Ragger ein Buch über Eva Moser erschienen, das du initiiert hast. Warum war es dir ein so großes Anliegen dieses Buch herauszubringen?

KJ: Von allen Österreicherinnen, die seit 1920 auf die Welt gekommen sind und Schach spielten und spielen, ist Eva Moser die Größte. Mit ihrem fulminanten Aufstieg kam sie, wie ganz wenige Frauen auf der Welt, dem Titel eines (männlichen) Großmeisters ganz nahe. Ihrem schöpferischen Werk musste ein Denkmal gesetzt werden. In dem Buch hat Markus Ragger ihren wertvollen Nachlass analysiert. Michael Ehn hat einen umfassenden Artikel über Frauenschach in Österreich verfasst.

WK: Zurück zu den Anfängen und zu positiven Erlebnissen. Wie war es möglich 46 Jahre an der Spitze eines Verbandes zu bleiben, insbesondere wenn man bedenkt, dass du diese Funktion nicht aktiv angestrebt hast?

KJ: Eigentlich wollte ich ursprünglich ein starker Spieler werden, dann holten mich aber Funktionen ein. Dass ich in der Landesregierung der Steiermark landete, hatte ich nie geplant. Auch nicht, dass 1970 eine Delegation aus Wien mich bat, die Führung des ÖSB zu übernehmen. In Wien gab es sehr gute Spieler und starke Vereine, aber die Funktionäre, die dort den ÖSB leiteten, waren uneinig. So wurde ich im September 1971 einstimmig in der Versammlung aller Bundesländer gewählt. Die lange Dauer in einer Präsidentschaft musste mehrere Gründe haben. Sicherlich einen leidenschaftlichen Bezug zum Schach. Ich hatte das Glück, hervorragende Mitstreiter zu finden und muss an der Spitze für viele Karl und Gertrude Wagner zitieren, die für Schach sozusagen Tag und Nacht brannten. Im Laufe der Jahre bin ich ganzen Generationen von Spielern und Organisatoren begegnet, mit deren Einsatz sich der ÖSB weiterentwickelte.

WK: Zu deinem Abschied im ÖSB haben Eva Moser, Michael Ehn und das Team von Schach Aktiv in einer Sonderausgabe dein Schaffen für das österreichische und internationale Schach aufgearbeitet. Wenn du dir dieses Heft durchblätterst, bist du dann selbst überrascht wie viel da gelungen und innovativ aufgebaut worden ist? Ich denke beispielsweise an die Jugendmeisterschaften, die mit einer Altersklasse begonnen haben. 2017 waren es dann jährlich 37 Bewerbe (Buben, Mädchen, U8 bis U18, Standard, Rapid, Blitz). Oder an die Gründung der ECU, des Mitropacups, die vielen internationale Veranstaltungen…

KJ: Ich erinnere mich an weitere nachhaltig Etappen. Es gelang 1976 Schach in den Lehrplänen österreichischer Schulen als Freigegenstand oder Unverbindliche Übung durchzubringen. Daraus entstanden die Bundes-Schülerligen. Die Staatsliga wurde bereits 1975 als Vorgängerin der Bundesligen gegründet. International wurde 1976 der Mitropacup neu erfunden. 1981 übernahm der ÖSB die Herausgabe von Schach-Aktiv.

WK: Bei all dem, das gelungen ist. Welche drei Ereignisse siehst du als deine größten Erfolge?

KJ: Mich interessierte stark das internationale Schach, wobei mir Sprachkenntnisse zu vielen Verbindungen verhalfen. 1978 wurde auf dem FIDE-Kongress in Buenos Aires Fridrik Olafsson neuer Präsident. Zum ersten Mal wurde in der anwachsenden FIDE ein Sprecher für Europa gesucht. Ich wurde gewählt und kam auf diese Weise in die Spitze des Weltverbandes. Das war ein entscheidender Moment für die Zukunft.

Am 30. August 1985 wurde auf dem FIDE-Kongress in Graz die erste Kontinentale Versammlung für Europa, die ECU, die European Chess Union, gegründet. Initiator und erster Präsident war Rolf Littorin aus Schweden. Er übergab mir das anfänglich schwierige Amt ein Jahr später. Der Kalte Krieg in der Politik verzögerte die Entwicklung, aber nach der Auflösung der Sowjetunion entstand der heute mächtige Verband, dem ganz Europa, mit Ausnahme des Vatikans, angehört.

Am 1. Jänner 2005 wurde der ÖSB Mitglied der BSO und damit in Österreich als Sport anerkannt. Nach langem Ringen eröffneten sich für Schach neue Möglichkeiten, Kaderarbeit, Trainersystem, Sekretariat für neue Organisation.

WK: Gab es auch etwas, das du letztlich nicht umsetzen konntest, aber gerne getan hättest?

KJ: Verbesserte Entwicklung des Schulschachs in Österreich, im Sinne des Beschlusses des Europäischen Parlaments, der den Mitgliedsländern der EU empfahl, Schach, soweit nicht schon geschehen, in ihr Bildungssystem aufzunehmen.

WK: In einem Interview mit der Journalistin Felicitas Freise hast du 1971 gemeint: Schach braucht Fantasie! Ich habe in unserer 15-jährigen engen Zusammenarbeit im ÖSB immer deine Zielstrebigkeit und Disziplin bewundert. Braucht es im Schach mehr Disziplin oder mehr Fantasie?

KJ: In jüngsten Jahren beginnt der Zugang mit der Neugierde auf das Spiel und der Freude am Wettkampf. Talent zeigt sich früh mit Fantasie, die auf dem Brett die Zukunft sieht. So beginnt ein Übergang zu einer sportlichen Aktivität. Wenn der Spieler oder die Spielerin es ernst meint, brauchen sie Fitness im Kopf und körperlichen Ausgleich. Fantasie ohne Disziplin reicht nicht. Disziplin ohne Fantasie reicht gar nicht.

WK: Wir beide sind in Graz im Bezirk Jakomini groß geworden, unweit der "Gruabn", der Heimstätte des SK Sturm. Du bist ein Fan des SK Sturm und des Fußballs. Siehst du Ähnlichkeiten zwischen Fußball und Schach?

KJ: Schach ist Einzel-, Fußball Mannschaftssport. Beide treffen sich in der Notwendigkeit, intensiv zu trainieren, sich fit zu erhalten, mental während des ganzen Matches, der ganzen Partie, voll konzentriert zu sein. Klarer Siegeswille, Fairness.

WK: In wenigen Tagen beginnt das Jahr 2021. Was sind aus deiner Sicht die wichtigsten Aufgaben des ÖSB für die nächsten Jahre? Wo würdest du den österreichischen Schachsport in 10 Jahren national und international gerne sehen?

KJ: Den ÖSB in allen Kategorien breit aufstellen.
Mehr Frauen, die sich für Mädchen- und Frauenschach engagieren.
Sportliche Spitzenleistungen unterstützen, dadurch Interesse in den Medien halten und steigern, als Voraussetzung für finanzielle Förderung durch die öffentliche Hand und private Sponsoren.
Österreich sportlich und organisatorisch international gut positionieren.

WK: Danke für das Gespräch.

 

Die Ära Kurt Jungwirth, Schach Aktiv Sonderheft...

 

mit einem Porträt Jungwirths der Journalistin Felicitas Freise:

 

31.12.2020
Walter Kastner

 

 

 

Jahrhundertspieler Markus Ragger zeigt eine Lieblingspartie

Markus Ragger, Österreichs frisch gekürter Spieler des Jahrhunderts, hat sich durch sein persönliches Partien-Archiv gewühlt. Herausgekommen ist die Analyse seines Sieges gegen Sebastian Maze 2016 für das 100 Jahr Magazin des ÖSB: "Eine qualitativ hochwertige Partie - sie repräsentiert meinen Stil, war eröffnungstheoretisch und auch sportlich für das Nationalteam wichtig. Sie erfüllt viele Kriterien, die mir wichtig sind: Deshalb ist es eine meiner Lieblingspartien!", meint Ragger.

Königsindisch, eine Odyssee und ein Scheinopfer
Analyse: Markus Ragger

 

(Ein Beitrag aus dem Magazin 100 Jahre ÖSB)

WK, Text: Hannes Neumayer, Foto: Laima Domarkaite

Präsidentenmacher, Pendeldiplomat oder gar ein Wunderwuzzi

„Der Schachspieler hinter Van der Bellen“ ist der Titel eines Standard-Artikels über Lothar Lockl. Der Verweis auf das Spiel mit den 64 Feldern fehlt in kaum einer Geschichte über den Mann, der als Politik- & PR-Stratege maßgeblich zur Wahl des heutigen Bundespräsidenten beigetragen hat.

Ein persönliches Schach-Porträt von Hannes Neumayer

Erzählen Politiker von ihrer Schachkarriere, werden Schachinteressierte skeptisch: Da gibt es doch den ominösen Ex-Vizekanzler, der den (bislang unbelegten) Mythos seines Schülerliga-Erfolgs bei den Schulbrüdern in Wien-Strebersdorf verbreitete. Bei Lothar Lockl ist das anders: Es ist die Geschichte einer großen Liebe, die man als Erwachsener aus den Augen verliert, um sie Jahrzehnte später aus heiterem Himmel wiederzuentdecken.

„Mein Vater war begeisterter Hobby-Schachspieler und hat mir Schach beigebracht. Am Wochenende ging es immer zum
Familienaus.ug mit dem Fahrrad in die Lobau: Er hat es geliebt mit mir Schach zu spielen und natürlich immer gewonnen. Bis zu dem Tag, an dem ich gewonnen habe! Da hat er, glaube ich, drei Tage die Kommunikation mit mir eingestellt, weil das natürlich in der Familiengeschichte eine Zäsur war“, erinnert sich der 1968 geborene Lockl zurück.

Weiter ging es über Vermittlung der Mutter in der Schule. Der Klassenvorstand bot neben Mathe auch Schach als Freifach an: „Meine Mutter dachte, aufgrund meiner disziplinären Probleme – ich war sicher nicht der einfachste Schüler aus Sicht meiner Lehrer – wäre es förderlich für die Beziehung zu meinem Klassenvorstand, dass ich an dieser unverbindlichen Übung teilnehme.“ Die Mutter sollte recht behalten: Der Klassenvorstand vermittelte das junge Talent bald zum nahe gelegenen Schachklub Donaustadt, in das Mergenthaler Stüberl in Kagran, gleich hinter dem Donauzentrum.

Lockls Schulwechsel von der Donaustadt nach Erdberg macht diese Geschichte zu einem persönlichen Porträt: Lothar wurde
die gesamte Oberstufe mein Sitznachbar im GRG III. Schon nach wenigen Wochen wurde mir bewusst, wie hartnäckig er sein kann. Weil er jeden Tag seine Partien vom Vortag nacherzählen und nachspielen wollte, musste auch ich Schachspielen lernen. Nicht nur
das: Ich musste mir die Partie virtuell auf der Schulbank vorstellen können. Heute kann ich es ja zugeben: Es war in gleichem
Maß nervtötend wie beeindruckend, ein ganzes Schachspiel in Buchstaben-Zahlen-Kombinationen auswendig zu können und sich im Kopf vorzustellen. Bei mir reichte es eher zur Aufstellung des letzten Derbys Rapid – Austria. Eine
Leidenschaft, die uns bis heute trennt. Denn er ist Violetter, ich Grüner.

Kurz darauf mussten wir wegen Lothar Schülerliga spielen. Das war leider genauso wenig erfolgreich wie mein einziges Schach-Turnier mit einem Kontumaz-Sieg als Highlight. Eine unvergessliche Anekdote: Im Maturajahr musste jeder der 21 Klassenkameraden einen Schach-Großmeister kennen. Bis heute sorgen Namen wie Dzindzichashvili bei Klassentre£en für Gelächter.

Lothar war es aber ernst mit Schach: Tennis und Basketball wurden zurückgestellt. Er wurde Wiener Jugendmeister, also Stadtmeister, spielte für Donaustadt und Hietzing Staatsliga und holte sich den Titel „Österreichischer Meister“. Die beste ELO-Zahl kommt auch heute wie aus der Pistole geschossen: „2280. Ich war knapp vor dem FIDE-Meister.“

Während die Freunde die Maturareise am ungarischen Plattensee fortsetzten, erfüllte sich Lothar „den Traum Schach
für ein paar Monate wie einen Beruf auszuüben. Ich habe dann auch Turniere in Deutschland, Schweden und England gespielt. Ich wollte ausprobieren, wie ist es, wenn man eine gewisse Zeit ununterbrochen Schach spielt. Ich habe viel Gewicht verloren. Man denkt Tag und Nacht an das Spiel und am Ende war mir diese extreme Belastung zu einseitig. Aber: Ich habe es probiert, es hat mich
wahnsinnig geprägt und es ist eine unbezahlbare Schule fürs Leben. Davon habe ich in der Politik und in meiner Firma
massiv profitiert.“

Immer griffbereit. Das Schachbrett musste zum Foto-Termin bei „Lockl & Keck“ nicht mitgebracht werden, es gehört zum Büro-Inventar.

 

Wie war der Schachspieler Lothar Lockl?

Lothar Lockl: Ich war ein sehr schlechter Eröffnungsspieler und hatte dadurch viele Zeitnotpartien. Ich habe sehr intuitiv gespielt, wenig auswendig gelernt. Trotzdem habe ich viele Partien auch wegen dem Faktor Psychologie gewonnen. Ich hatte oft für zehn Züge nur noch zwei Minuten. Der andere hatte für die zehn Züge noch eine Dreiviertelstunde. Es ist klar, dass eigentlich der gewinnen müsste, der mehr Bedenkzeit hat. Aber er hat auch den vollen Druck, weiß, „ich muss jetzt gewinnen“. Von dem, der Zeitdruck hat, hingegen erwartet man, dass er verliert. Also in dem Fall ich. Da lernt man: Bleib’ gelassen, konzentrier’ dich, glaub’ an die Chance. Gerade, wenn du mit Medien und Öffentlichkeit in der Politik zu tun hast, hilft das.

Dein eindrucksvollstes Schach-Erlebnis?

Was mich wahnsinnig fasziniert hat, waren die Partien zwischen Garri Kasparow und Anatoli Karpow. Ich war einmal bei einem Open in London, die beiden haben parallel einen WM-Kampf gespielt. Da sind diese beiden Welten aufeinandergetro£en: Karpow als Positionsspieler mit sehr langfristig angelegten Strategien, der jedes Risiko gerne vermieden hat. Während sich Kasparow am wohlsten gefühlt hat, wenn das Brett in Flammen steht! Wenn viele taktische Varianten am Tisch waren. Der Kasparow-Stil ist natürlich viel spektakulärer zum Nachspielen, während der Karpow-Stil manchmal fälschlicherweise als fad bezeichnet worden ist. Weil es für Hobbyspieler manchmal nicht ersichtlich ist, welche Genialität sich hinter den Zügen verbirgt. Dieses Aufeinandertre£en von Feuer und Wasser: dort ruhige Wellen, kein Ausschlag und dort der stürmische Ozean, die Leidenschaft der kurzfristigen Energie.

Wer warst du am Brett: Karpow oder Kasparow?
Mehr ein kleiner Kasparow (lacht). Mir hat sein hohes Risiko bewusstsein imponiert. Er hat immer Mut, Zuversicht und
Selbstvertrauen ausgestrahlt. Meine Lieblingsvariante ist übrigens die Sweschnikow-Variante in der sizilianischen Eröffnung – das ist eine sehr aggressive Angriffsvariante mit den schwarzen Steinen. Das taugt mir!

Nachdem du bis ins Alter von 25 Staatsliga gespielt hast, war lange Pause. Wie bist du wieder zum Schach gekommen?

Ich habe sicher 20 Jahre keine Partie mehr gespielt. Ich bin so: ganz oder gar nicht. Erst im Präsidentschaftswahlkampf 2016 bin ich sehr oft sehr spät nach Hause gekommen, oft erst in der Früh. Da war natürlich sehr viel Druck im Wahlkampf und ich konnte nicht gleich einschlafen. Da habe ich dann eine Schach-App am Smartphone entdeckt. Die App habe ich auf 15 Minuten ich, 15 Minuten das Programm eingestellt und vor dem Einschlafen meistens noch eine Partie gespielt. Fast jeden Tag. Das war dann
mein Einschlafritual, so habe ich die Liebe zum Schach wiederentdeckt. Das hat mich aufgewühlt und beruhigt zugleich. Meistens
bin ich dann erschöpft eingeschlafen.

Was kann man vom Schachspiel auf das Leben umlegen?

Zum Beispiel das ganze Thema Konzentrationsfähigkeit. Sich in bestimmten wichtigen Situationen ausschließlich auf eine Sache zu konzentrieren und das komplette Potenzial zu entfalten. In einen Flow-Zustand zu kommen, das lernt man beim Schach. Ich habe es vor allem beim Blindspielen gelernt, also sich ohne Brett und ohne Figuren die ganze Partie nur im Kopf vorzustellen.

Und im Job als Strategie-Berater für Politik oder Unternehmen?

In einer Unternehmensstrategie oder einer politischen Strategie machen viele den Fehler, ausschließlich zu sagen: „Und, was sollen wir jetzt machen?“ Sie blenden komplett das Umfeld aus, die Rahmenbedingungen, den Wettbewerb. Der Schachspieler denkt ja: Angenommen der andere wäre am Zug, was würde der ziehen? Dadurch ist dein Gegenüber auch ein Faktor. Dann überlege ich mir, was heißt das für meinen Zug? Das ist eine unbezahlbare Schule, dass ich bei jedem Konzept erst einmal überlege: Was ist die Ausgangssituation? Was würden potenzielle Konkurrenten oder Mitbewerber machen? Und dann überlege ich mir erst, was heißt das für meine Strategie.

Und im Schach musst du irgendwann den nächsten Zug machen …

Richtig. Ein Riesen-Thema im Spitzen-Management ist das Thema Entscheidungen! Du musst beim Schach unter Zeitdruck
eine Entscheidung treffen. Und du weißt, du kannst einen Zug nicht mehr rückgängig machen. Das prägt fürs Leben: vorausdenken, abwägen, entscheiden. Und was ganz wichtig ist, ist Stressresistenz: unter Zeitdruck gelassen und ruhig zu bleiben. Anstatt die Nerven wegzuschmeißen, weil viele Menschen zusehen oder kiebitzen, muss man sich fokussieren. Mich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, habe ich beim Schach gelernt.

Schach prägt fürs Leben. Lockl: „Du musst beim Schach einfach eine Entscheidung treffen. Unter Zeitdruck. Und du weißt, du kannst einen Zug nicht mehr rückgängig machen.“


Du hast einmal gesagt, dass ein Kern-Problem der Politik ist: Alle schauen auf Taktik, aber nicht auf die Strategie!

Oft ist es gut zu überlegen, ist das jetzt eine taktische Überlegung oder folgt es wirklich einem langfristigen strategischen Plan. Wenn ich beides im Auge habe, wird im Regelfall nicht nur die Schachpartie besser, sondern auch die Qualität von unternehmens- oder politikstrategischen Entscheidungen. Natürlich, der aktuelle Mediendruck und die digitale Welt verführen zum kurzfristigen Denken. Oder Renditeerwartungen in der Wirtschaft. Aber nachhaltigen Erfolg hat man im Regelfall nur, wenn man einen langfristigen Plan verfolgt.

Könnte man folgern, die Welt braucht mehr Schachspieler in der Politik?

Schachspielen zu können ist sicher kein Nachteil, im Gegenteil. Einen langen Atem haben, sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, aus Fehlern lernen, wenn man daneben gelegen ist: Für die Qualität politischer Entscheidungen wäre es sicher besser, wenn es mehr langfristige Orientierung gäbe. Schach ist ein unbezahlbares Wissen, wenn man das Privileg und die Chance hatte, Strategie, Taktik, Konzentrationsfähigkeit, Risikobereitschaft, Entscheidungsfreude, Gelassenheit zu entwickeln.

(Ein Beitrag aus dem Magazin 100 Jahre ÖSB)

WK, Interview: Hannes Neumayer, Fotos: Robert Sturm

Die Bretter, die die Welt bedeuten

Karpow. So hieß er. Anatoli Jewgenjewitsch Karpow. Mit ihm hat alles begonnen. Er galt als Genie und war in den 1960er Jahren bereits als Teenager auf dem Weg zum Schachgroßmeister. Im Alter von 24. Jahren eroberte er nach Siegen über Boris Spasski und Viktor Kortschnoi den WM-Titel und sollte von da an jene Bretter, die die Welt bedeuten, ein Jahrzehnt lang beherrschen. Als überragender Positionsspieler, wie die Experten nicht müde wurden, ihr Staunen zu manifestieren. Und mit solchen Einschätzungen von strategischer Großmacht war freilich auch ein Bub, der immer schon ein Faible für sportliche Superlative besaß, nachhaltig zu beeindrucken.

Ich spielte zu dieser Zeit nicht Schach. Wusste bestenfalls Bescheid über die Regeln, den Wert einzelner Figuren und die faszinierende Idee, Überlegenheit durch die Fähigkeit des Vorausdenkens zu erlangen. Aber ich wagte mich auch niemals über eine Skisprungschanze und dennoch war Toni Innauer ein Idol. Und ich war weit entfernt davon, einen Führerschein zu besitzen, saß aber voller Leidenschaft vor dem Fernseher, um Rallyestar Walter Röhrl bei dessen Husarenritten zu begleiten.

Warum also sollte ich nicht dem Schachzauber erliegen, ohne je eine Dame in Händen gehalten zu haben? Und eines Tages entdeckte ich Karpow. In der Zeitung. In der die Einzigartigkeit des russischen Schachgiganten analytisch herausgearbeitet wurde. Ich las den Artikel mit Sicherheit zwanzig Mal, so sehr zog mich die Beschreibung geistiger Höchstleistung in ihren Bann. Und irgendwann offenbarte mir mein Vater, dass Schach auch im Fernsehen übertragen würde.

Mit dem genialen Teenager Anatoli Karpow hat alles begonnen (Foto: Wikipedia)

Eine nahezu absurde Vorstellung, dass wir allen Ernstes Menschen Zug um Zug beim stundenlangen Brüten beobachten sollten – weniger Action ist kaum denkbar, mochte man meinen. Ein fundamentaler Irrtum. Die Sendung „Schach der Großmeister“ wurde zu Beginn der 80er Jahre ein Live-Spektakel, das der deutsche Großmeister Helmut Pfleger moderierte, und das ich für erheblich spannender erachtete als jeden Tatort oder Derrick. Ich sah Karpow beim Denken und Ziehen zu und ich lauschte voller Begeisterung den Worten des Auskenners, der für mich mit grafisch geschickt arrangierten Strategiemodellen und Überlegungen zu den vielen Möglichkeiten auf dem Weg zum Matt die Abenteuer im Kopf erfassbar machte.

So sehr, dass ich meinen Vater bat, er möge mich das Spiel lehren, bis ich bereit war, ihn zu fordern. Er war kein großer Schachakrobat und ich sollte auch niemals einer werden. Aber das Gefühl, auf Augenhöhe ein Duell des Geistes zu bestreiten, bereitete mir unendlich viel Freude. Zumal ich damals unter dem Zappelphilipp-Syndrom litt und erkannte, dass es lediglich die 32 magischen Figuren waren, die mir zur Ruhe, Konzentration und innerem Wohlbefinden verhalfen.

Daher gab es auch kein Vorüber an der „Schachnovelle“. Bis heute existiert kein Buch, das ich öfter gelesen habe, als jenes Werk von Stefan Zweig, das er im brasilianischen Exil schrieb, und das sich auf so ungewöhnliche Weise den psychischen Abgründen nähert. Das Schachspiel wird erst zum Retter des Verstandes, um selbigen später an die Grenzen zu führen. Und darüber hinaus, bis zur Persönlichkeitsstörung. Mit dem Gedanken, gegen sich selbst spielen und gewinnen zu wollen. Ein meisterlicher Zugang in die schwarz-weiße Seele, die bei mir vor allem einen Eindruck hinterließ: Schach ist ein Dämon, der viel mehr mit uns anzustellen vermag als der vermeintlich simple Code von A2 – C3 oder F4 x H6.

Von da an spielte ich oft und gerne. Allerdings ohne den großen Ehrgeiz mich weiterzuentwickeln. Mir genügten die Partien mit den Freunden, fernab von Elo-Zahlen und Turnierfanatismus. Ich spazierte ins Café, um mir Geografie-Tests, Englischvokabel-Prüfungen und Mathe-Schularbeiten zu ersparen, und pendelte als Müßiggänger zwischen Billardtisch und Schachbrett. Und nur gelegentlich kam es vor, dass ich – von Übermut angestachelt – passionierte Schachspieler um eine Auseinandersetzung bat. Die ich selbstverständlich mit Ansage verlor. Es handelte sich um Untergänge, und zwar ohne wehende Fahnen. Denn mit selbst verordnetem Kampfgeist war am Brett nichts zu kompensieren.

Genau deshalb verlor ich gerne. Ja, ich genoss die Überlegenheit meiner Gegner, weil sie meine Naivität schonungslos offenlegten und mir ansatzweise die Dimensionen des Schach-Universums demonstrierten. Wie gut muss erst ein Karpow sein, dachte ich mir, während mich der Lokalkaiser, der sich als Nemecek Fredl einen Namen gemacht hatte, in die primitivsten Fallen lockte und mir ruckzuck Gewissheit darüber verschaffte, dass die Erde eine Matt-Scheibe ist.

Meine Ausflüge ins Café wurden mit zunehmendem Alter mehr und mehr und führten zu zwei Gewissheiten: Mein Schachspiel
wurde um einige Nuancen besser, meine Schulleistung um Eckhäuser schlechter. Mein tief im Unterbewusstsein sitzendes Credo, von einem Teufelchen erdacht, lautete: Lieber in 50 Minuten eine Partie verlieren, als in 50 Minuten Erkenntnisse über den Aufbau eines Cytoplasmas, die Gesetzmäßigkeiten des Passé composé oder die Auswirkungen der Heisenbergschen Unschärferelation gewinnen. Ein Schulfach namens Karpow mit einem Herrn Fessa Pfleger hätte ich gerne gehabt, stattdessen scheiterte ich an den Tücken der Darstellenden Geometrie und musste die siebente Klasse wiederholen.

Was sich auf gewisse Weise als Glücksfall erweisen sollte. Denn ich landete nach dem Durchfallen in einer Gemeinschaft, in der auch Dimitri seine Matura-Sehnsucht lebte. Und Dimitri war ein grandioser Schachspieler. Mit dem einzigen Problem, dass seine vielen Tipps an uns so tiefgründig waren, dass wir sie nicht im Geringsten verstanden. Egal. Das mit der Schachkarriere war ohnehin kein erklärtes Ziel von mir, aber im Angesicht geistiger Effekte von gut trainierten Strategen fehlte es mir nie an Hingabe.

Dimitri hatte einst in seiner russischen Heimat eine Schachschule besucht, und so verging im Gymnasium in Wien Alsergrund kaum
eine Pause ohne Brett-Exhibition. Dimitri ließ uns bei Simultan-Partien wie Deppen aussehen, demoralisierte uns in Fressschach- Exzessen und schaffte es als Gedächtnisakrobat sogar ohne Blick aufs Brett, die Begegnungen einigermaßen o.en zu halten. Darüber hinaus erzählte er uns von Übungen, die das Hirn fitter machen, von der systematischen russischen Schachphilosophie und von den vielen Raffinessen zwischen Eröffnung und Endspiel.

Was tatsächlich zur Folge hatte, dass sich meine Schwänzer-Ära dem Ende zuneigte. Weil nämlich mein Vorschlag („Was is, Dimitri, Schachmatcherl im Kaffeehaus?“) am sibirischen Eisberg der Disziplin zerschellte. Dafür genügte ein Blick.

Wer vermag daher zu erahnen, wie groß Dimitris Anteil möglicherweise ist, dass ich das Gymnasium am Ende doch noch mit einem Maturazeugnis in der Tasche verlassen sollte. Denn dass ein erfolgreicher Schulabschluss für das weitere Leben keine ganz schlechte Strategie ist, habe ich auch dank seiner Mentalität gelernt. Zumindest einen Zug habe ich damals vorausgedacht. Beinahe großmeisterlich. Was mir beweist: Ein bisserl Karpow tragen wir doch alle in uns.

(Ein Beitrag aus dem Magazin 100 Jahre ÖSB)

WK, Text: Michael Hufnagl, Foto: Christian Jungwirth

PK Sport Austria: Sport in der Coronakrise

Der organisierte Sport ist wie alle anderen Lebensbereiche stark von Corona betroffen. Die Studie "aktives Sportverhalten und passiver Sportkonsum" belegt die Auswirkungen nun in Zahlen. Sport Austria hat die Studie in einer Pressekonferenz präsentiert und zieht daraus die Schlussfolgerung "warum wir uns mehr bewegen müssen".

Links:

Die Pressekonferenz in der TV-Thek

Bericht bei Sport Austria

WK, Foto: Sport Austria/Leo Hagen