Die Weltmeisterschaft 2023 wird erst in einem Stichkampf in der letzten Schnellschachpartie entschieden. "Selfpinning to immortality, congrats Ding", twitterte Magnus Carlsen und bringt es auf den Punkt.
Nach drei Remisen schien die vierte Partie des Stichkampfs in eine Zugwiederholung zu münden und die Entscheidung auf Blitzparten vertagt. Aber Ding erstaunt alle und zieht mit nur mehr einer Minute auf der Uhr den Turm zwischen seinen König und die gegnerische Dame. Diese Selbstfesselung sieht gefährlich aus, aber Ding hat alles unter Kontrolle, sucht die Entscheidung und wird für seine Mut belohnt. In einem dramatischen Zeitnotfinale hat Ding das bessere Ende für sich, Nepomniachtchi gibt im 68. Zug auf. Ding Liren ist erster chinesischer Weltmeister.
Der Weg zum Titel ist filmreif. Eigentlich hatte Ding die Qualifikation für das Kandidatenturnier verpasst. Erst eine Sperre der FIDE von Sergey Karjakin, wegen Äußerungen zum Krieg in der Ukraine, macht Ding einen Platz frei. Im Kandidatenturnier startet Ding mit einer Niederlage gegen Nepomniachtchi und hat nach sieben Runden nur drei Punkte am Konto. Die Qualifikation ist in weiter Ferne. Nach einer längeren, pandemiebedingten Pause startet Ding eine Siegesserie und gewinnt gegen Duda, Rapport und Caruana drei Partien hintereinander. In der Schlussrunde siegt Ding im Kampf um den zweiten Platz im direkten Duell gegen Nakamura. Üblicherweise ist der Zweite der erste Verlierer, da sich nur der Sieger für das Match um die Weltmeisterschaft qualifiziert. Erst als Magnus Carlsen Gerüchte bestätigt und offiziell bekannt gibt, den Titel nicht mehr verteidigen zu wollen, spielt Ding um die Weltmeisterschaft.
Der Auftakt der WM steht ganz im Zeichen von Ian Nepomniachtchi. Der unter neutraler Flagge spielende Russe diktiert die erste Partie und kann in der zweiten mit Schwarz einen ersten Sieg einfahren. Ding wirkt desolat und gibt offen mentale Probleme zu. Doch dann wendet sich das Blatt, das große Kämpferherz von Ding erwacht. Er gewinnt die vierte Partie und kann zwei weitere Rückstände in der sechsten und zehnten Partie ebenfalls ausgleichen. In der letzten klassischen Partie hat Nepomniachtchi eine weitere Chance das Match vorzeitig zu entscheiden. Zum wiederholten Mal wird ihm eine alte Schwäche zum Verhängnis. Er spielt im kritischen Moment seinen Zug sehr schnell und intuitiv. Ding nutzt den Fehler, rettet die Partie mit einem 7:7 in den Stichkampf.
Das Tie-Break bringt China einen großen Erfolg. Der Masterplan, alle großen Titel zu holen, ist mit Ding Liren als Weltmeister erfüllt. Zuvor hatte China zweimal die Schacholympiade in der offenen Klasse (2014 und 2018) und sechsmal bei den Frauen (1998, 2000, 2002, 2004, 2016 und 2018) gewonnen. Im Frauenschach dominiert China bereits seit 1991 mit den Weltmeisterinnen Jun Xie, Chen Zhu, Yifan Hou, Tan Zhongyi und Wenjun Ju. Weltmeister Ding Liren wird das Interesse in China wohl weiter steigern.
Russland muss seit Kramnik (2007) und Kosteniuk (2010) weiter auf einen Titel im klassischen Schach warten. Ian Nepomniachtchi hätte alle Voraussetzungen. Er ist hochtalentiert und spielerisch in der Lage jeden zu überspielen. Das Kandidatenturnier zweimal hintereinander zu gewinnen kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Es ist das Turnier der acht besten Spieler der Welt, abgesehen vom Weltmeister. Wie schon des öfteren scheitert Nepmoniachtchi an seiner Impulsivität und an einem Ding Liren, der einen Rückschlag nach dem anderen wegstecken konnte und im gesamten WM Zyklus bewiesen hat, dass er im entscheidenden Moment nervenstark seine besten Leistungen abrufen kann und so das "Glück" auf seine Seite zwingt.
Die Schachwelt hat jetzt mit Ding Liren einen neuen Weltmeister und mit Magnus Carlsen eine überlegene Nummer Eins in der Weltrangliste. Das Match war kampfbetont, mitreißend und bis zum letzten Zug dramatisch. Die Schachfans dankten es beiden Spielern. Am Ende musste zwischen zwei gleichwertigen Kontrahenten einer gewinnen, weil einer gewinnen musste. (WK, Foto: FIDE/Stev Bonhage)